V. Kollaboration, Kommunikation und Rollenverständnis 43. Wie sieht ein angemessener Umgang mit der Kultur der Digitalität aus?
Digitalität und ihre Kultur sind Ergebnisse komplexer, unumkehrbarer und digitaler Transformationsprozesse und zeichnen sich, unter anderem, durch eine „enorme Vervielfältigung der kulturellen Möglichkeiten“ (Stalder 2016, 10) und neuen Alltagspraxen aus. Wer sich in virtuellen Räumen, zum Beispiel auf Social-Media-Plattformen, bewegt, merkt schnell, dass sich diese und die in ihnen entstehenden Produkte in vielerlei Hinsicht von denen unserer traditionellen „Buchkultur“ unterscheiden. Sie sind häufig schneller, spontaner, wandelbarer, vorläufiger, referenzieller, demokratischer, multimedialer, perspektivenreicher und insbesondere auch netzwerk- und kommunikationsorientierter als das, was wir aus der linearen und statischen Buchkultur, in der Wissen von einzelnen Autoritäten erzeugt und festgeschrieben wird, gewohnt sind. Während es in der Kultur der Digitalität beispielsweise vollkommen normal ist, dass sich ein Produkt, beispielsweise eine Veröffentlichung, im Austausch mit (unbekannten) anderen weiterentwickelt, gilt in traditionellen Kontexten häufig das Primat der Perfektion und Abgeschlossenheit. Dieser Bruch zwischen den ‚Kulturen‘ wird in der Lehre besonders dann deutlich, wenn man mit Lernenden konfrontiert wird, die es gewohnt sind, in dieser digital geprägten Art und Weise zu kommunizieren und zu arbeiten. Gleichermaßen gibt es jedoch auch eine Vielzahl von Lehrenden, die ihre Materialien, Kurse und Gedanken gemeinsam mit der Community, Lehrenden wie Lernenden, entwickeln und erproben und offen für eine ständige und zum Teil auch öffentliche Weiterentwicklung der eigenen Lehrveranstaltungen sind.
Herausfordernd wird es insbesondere dann, wenn diese unterschiedlichen Kulturen, „Buchkultur“ und „Kultur der Digitalität“, aufeinandertreffen – insbesondere, wenn man sich dieses Konflikts gar nicht bewusst ist. Das oben bereits kurz angeführte Aufeinandertreffen zweier entgegengesetzter Denk- und Arbeitsweisen führt im Kontext der digitalen Bildung erfahrungsgemäß immer wieder zu Unsicherheiten, Missverständnissen und Reibungen. Das lässt sich an drei plakativen Beispielen verdeutlichen: Während manche „den Chat“ als direktes Pendant zur Seminardiskussion verstehen, funktioniert dieser aus der Perspektive der Digitalität grundlegend anders. Der Chat lebt von vielen parallelen Diskussionen, schnellen Reaktionen, einem informellen und hocheffizienten Sprachstil sowie von kreativen Versuchen, mit den Restriktionen des Mediums umzugehen. Wenn Studierende also während eines Vortrags ‚wild‘ im Chat diskutieren und dabei Emojis, GIFs und Memes austauschen, ist das keineswegs notwendigerweise ein Zeichen von mangelndem Respekt oder Desinteresse am Inhalt, sondern eine vollkommen angemessene Nutzung des Mediums und ein Zeichen der Partizipation. In ähnlicher Weise kann es bei digitalen Präsentationen schnell zu Missverständnissen kommen. Woran denken Sie, wenn Sie sich eine Videopräsentation vorstellen? Viele denken jetzt vermutlich an einen zehnminütigen foliengestützten Screencast, ganz ähnlich zu dem, was man bei virtuellen Konferenzen zur Genüge gesehen hat. Aus der Erfahrung mit Digitalprodukten heraus interpretieren andere eine Videopräsentation aber vielleicht auch ganz selbstverständlich als ein dreiminütiges, hochreferenzielles und multimediales Video-Essay, welches für Smartphones optimiert ist und zum remixen einlädt. Als drittes Beispiel, angelehnt an die eingangs beschriebenen Kulturunterscheide, lässt sich das Arbeiten an einem Text oder einer Präsentation beschreiben. Der Prozess aus Perspektive der Buchkultur könnte sich so gestalten, dass Lernende ein Thema vereinbaren und dann irgendwann, nach individueller Recherche und Arbeit, ein fertiges und in sich geschlossenes Lernprodukt präsentieren, welches dann angesehen und bewertet wird. Aus Perspektive der kokreativen, iterativen und referentiellen Kultur der Digitalität erscheint dieser Prozess vermutlich eher befremdlich. Hier würde das Lernprodukt, welches ganz selbstverständlich multimodal und referentiell ist, basierend auf bereits verfügbarem Material gemeinsam und iterativ gestaltet und erstellt. Anstelle von summativem Assessment würden ständiges Feedback und aktive Mitarbeit am niemals wirklich abgeschlossenen digitalen Produkt stehen. Ausgehend von diesen unterschiedlichen Perspektiven leiten sich unterschiedliche Erwartungen von Lehrenden und Lernenden über die Art des Arbeitens und die Ergebnisse ab. Diese, vielleicht unterschiedlichen, Erwartungen und Erfahrungen sollten verhandelt und im Idealfall didaktisch aufgegriffen werden.
Wie geht man nun in der Lehre mit solchen Unterschieden – wenn man sie denn selbst wahrnimmt – um? Zuerst einmal ist es wichtig, anzuerkennen, dass digitale Kontexte zumeist anders funktionieren als ihre traditionellen und analogen Pendants und es hilfreich ist, deren Vor- und Nachteile gezielt auszuspielen. Ein Seminarraum bietet schlichtweg andere, nicht notwendigerweise mehr oder weniger, Möglichkeiten als eine Videokonferenz. Dabei ist zu bedenken, dass der vermeintliche Dualismus zwischen einer gedachten „echten“ und einer „virtuellen“ Welt eigentlich schon lange nicht mehr zu halten ist. Darüber hin- aus ist es wichtig, sich interessiert und wert- sowie ergebnisoffen mit den vielleicht noch ungewohnten digitalen kulturellen Möglichkeiten und Praxen auseinanderzusetzen und eigene Abwehrmechanismen zu überwinden. Wer einmal ernsthaft versucht, selbst ein gutes Meme zu erstellen oder eine Geschichte in 90 Sekunden per Video zu erzählen, merkt schnell, dass mehr dahintersteckt, als nur in ein Handy zu starren. Wer versucht, einen schönen und inhaltlich präzisen Text aufs Papier zu bringen, merkt schnell, dass mehr dahintersteckt, als nur am Schreibtisch zu sitzen. Der hier, vielleicht überzogen, dargestellte Dualismus zwischen einer „Buchkultur“ und einer „Kultur der Digitalität“ soll keine einseitige Ab- oder Aufwertung darstellen. Er soll zeigen, dass es Unterschiede in der Art zu arbeiten, zu denken, zu kreieren und zu rezipieren gibt, die beeinflussen, wie wir lernen und lehren und wie wir beispielsweise auf Lernprodukte blicken.
Für die Praxis bedeutet all dies, dass es von zentraler Bedeutung ist, sich der Kultur der Digitalität und ihrer Ausprägungen bewusst zu sein und dieses Wissen aktiv in die Gestaltung von Lehr-Lernprozessen einfließen zu lassen. Das beinhaltet insbesondere auch einen bewussten, reflektierten und informierten Umgang mit unterschiedlichen Technologien und Kulturformen. Ein sehr nützliches Werkzeug, welches in diesem Zusammenhang von Dejan Mihajlović (2019) empfohlen wird, ist das Dagstuhl-Dreieck (Gesellschaft für Informatik e.V. 2016). Wann immer man auf Phänomene oder Herausforderungen der digitalen Welt stößt, kann man sich drei miteinander verbundene Fragen stellen, um sich anzunähern: Wie funktioniert das? Wie wirkt das? Wie nutze ich das? Dabei kann man bei den zwei letzten Fragen jeweils nochmals zwischen der eigenen Perspektive und der der Gruppe oder Gesellschaft unterscheiden. Aus einer didaktischen Perspektive besteht hier nun schlussendlich die Möglichkeit, diesen kritischen Untersuchungsprozess gemeinsam mit den Lernenden zu vollziehen und so ein Verständnis auf- und mögliches Un- oder Missverständnis abzubauen. Noch praktischer erlaubt uns das Wissen über die Unterschiede, mit ihnen zu experimentieren: Es kann beispielsweise sehr erhellend sein, ein Thema oder eine Frage auf ganz unterschiedliche Art und Weise, im Sinne der eingesetzten Medien und Arbeitsformen, zu bearbeiten.
Eggensperger, P., Kleiber, I., Klöber, R., Lorenz, S.M. & Schindel, A. (2023) Virtuelle Hochschullehre. Ein Handbuch in 50 Fragen und Antworten, Heidelberg: heiBOOKS, S. 120-122