V. Kollaboration, Kommunikation und Rollenverständnis 38. Was ist ein Lernkontrakt und wie kann ich diesen einsetzen?
Wird Lernen als aktiver Prozess der Bedeutungserzeugung verstanden (→Didaktische Grundüberzeugungen), bedeutet dies auch eine geteilte Verantwortung zwischen Lehrenden und Lernenden für die Erreichung der Lernziele: Lehrende und Studierende sind in verteilten Rollen verantwortlich, zum Gelingen des Lernprozesses beizutragen. Lehrende müssen dabei Veranstaltungen planen, die das Lernen der Studierenden im Blick haben und aktiv fördern. Studierende müssen sich gleichermaßen aktiv an ihren Lehrveranstaltungen beteiligen, denn eine rein passive Rezeption ist wenig lernförderlich. Die Grundlage dieser geteilten Verantwortung bilden Transparenz und im Idealfall eine explizite Vereinbarung über gegenseitige Erwartungen. Im didaktischen Kontext bezeichnet man eine solche von beiden Seiten geprägte und ausformulierte Vereinbarung als Lernkontrakt.
Ein Lernkontrakt ist also eine von Lehrenden und Lernenden in einer Lehrveranstaltung gemeinsam getroffene Absprache über und Einigung auf gegen- seitige Erwartungen, feste Regeln der Zusammenarbeit und reziproke Verantwortungen. Ein solcher „Kontrakt“ sollte zu Beginn einer Lehrveranstaltung, gerade wenn sich diese über einen längeren Zeitraum erstreckt, ausgehandelt werden. Die Lehrperson initiiert diesen Prozess beispielsweise dadurch, dass sie den Lernenden individuell, in Kleingruppen oder im Plenum Fragen zur Absprache stellt; anschließend werden die studentischen Vorschläge gesammelt und gegebenenfalls diskutiert. Dies können Fragen sein wie:
- Was ist Ihr Beitrag zum Gelingen der Veranstaltung?
- Was sollte in dieser Veranstaltung oder Gruppe auf keinen Fall passieren?
- Wie sollten wir zusammenarbeiten, damit die Veranstaltung einen Gewinn für Sie darstellt?
- Welche Regeln der Kommunikation sollten wir befolgen?
- …
Da es sich um eine reziproke Vereinbarung handeln soll, muss auch die Lehrperson ihre Erwartungen und jegliche (potenziell nicht verhandelbaren) Rahmenbedingungen explizieren und transparent machen. Die Erwartungen der Gruppe sind oft homogen, denn der Wunsch nach „offenem Austausch“, „konstruktivem Feedback“, „respektvollem Umgang“, „Einbringen eigener Erfahrungen“ oder „aktiver Beteiligung“ ist in der Regel bei allen Beteiligten ausgeprägt.
Im Zweifel können konkrete Aspekte ergänzt werden, die aus Sicht von Lehrenden zentral sind, aber von studentischer Seite manchmal vergessen werden, wie zum Beispiel „Pünktlichkeit“, „Vertraulichkeit“ etc. Gerade um die Arbeitsfähigkeit von Gruppen weiter zu fördern, sollten zudem allgemeine Regeln festgehalten werden, wie zum Beispiel maximale Fehlzeiten, Entschuldigungspraxis, Kommunikationsrhythmen etc.
Wichtig ist, dass die Punkte für einen Lernkontrakt gemeinsam erstellt, diskutiert und abgestimmt werden, was jedoch nicht bedeutet, dass Lehrende nicht einen bestimmten Rahmen vorgeben können. Ein solcher „Vertrag“ sollte so fixiert werden, dass er – beispielsweise digital – immer präsent und abrufbar ist. Er kann der Veranstaltung auf Lernplattformen vorangestellt sein, sodass alle Teilnehmenden immer wieder daran erinnert werden, worauf sich die Gruppe gemeinsam verständigt hat.
Lernförderlich ist ein Lernkontrakt vor allem deshalb, weil er einen klaren Rahmen für die Lehrveranstaltung schafft und die Teilnehmenden animiert, beziehungsweise letztlich dazu verpflichtet, für den Erfolg der Lehrveranstaltung eine Mitverantwortung zu übernehmen. Zudem erweist sich das Aushandeln gemeinsamer Regeln als äußerst motivationsfördernd, da es den Lernen- den Autonomieerleben, soziale Eingebundenheit und Kompetenzerleben ermöglicht (vgl. Deci und Ryan 2000; →Didaktische Grundüberzeugungen: „Motivation“), indem sie sich und ihre ganz eigenen Bedürfnisse einbringen können; indem sie sich als Gruppe abstimmen; und indem sie gemeinsame und für alle (inkl. der Lehrperson) gültige Leitlinien für Verhalten, Kommunikation, Kooperation und Haltungen entwickeln und (mit-)entscheiden.
Ein Lernkontrakt ist auch in virtuellen oder digital geprägten Settings leicht umsetzbar. Die Fragen können im Vorfeld, zum Beispiel auf einer digitalen Pinnwand oder einem kollaborativen Schreibtool (→Frage 7), beantwortet und in der synchronen Präsenz diskutiert werden. Digitale Tools bieten dabei den Vorteil, dass die Teilnahme anonym erfolgen und so die Partizipation erleichtert werden kann. Es ist in der virtuellen Lehre aber auch möglich, in synchronen Sitzungen gemeinsam ein Brainstorming zu machen, Regeln digital festzuhalten oder in Kleingruppen die Aushandlung vorzubereiten.
Ein Lernkontrakt sollte abschließend immer offen für potenzielle Änderungen oder Ergänzungen bleiben, die im Laufe der Lehrveranstaltung relevant werden können. Daher ist es sinnvoll, die gemeinsamen Vereinbarungen in bestimmten zeitlichen Abständen zu reflektieren und mögliche Modifikationen zu debattieren (→Frage 18).
Eggensperger, P., Kleiber, I., Klöber, R., Lorenz, S.M. & Schindel, A. (2023) Virtuelle Hochschullehre. Ein Handbuch in 50 Fragen und Antworten, Heidelberg: heiBOOKS, S. 111-112