II. Veranstaltungsformate 18. Wie kann der Ansatz der agilen Didaktik genutzt werden, um virtuelle Lehrveranstaltungen zu gestalten und organisieren?
In den letzten Jahren wird die sogenannte „agile Didaktik“ als Gegenpol zur traditionellen „Plan-Didaktik“, bei der alle Entscheidungen im Voraus getroffen werden, diskutiert (z. B. Arn 2016; Stern 2019, 2021). Die agile Didaktik basiert auf der Vorstellung, dass man als lehrende Person gut vorbereitet, aber ein Stück weit „planlos“ in die Lehr-Lernsituation eintritt, das Lernen gemeinsam mit den Lernenden aus dem Moment heraus gestaltet und das aktuelle Interesse der Beteiligten in den Mittelpunkt rückt. Sie orientiert sich damit stärker am Prozess der Veranstaltung als an einem geplanten und konkreten Produkt oder Ergebnis. An erster Stelle steht dabei nicht der Plan, der Stoff oder eine Reihe von Methoden, sondern die echte und gewinnbringende Kommunikation zwischen Lernenden, die jeweils eigene Lernziele und Interessen haben. Das mag auf den ersten Blick ungewöhnlich klingen und widerspricht vielleicht zu- nächst vielem, was üblicherweise als gute Lehrplanung propagiert wird. Die Idee ist aber eben nicht, sich keine Gedanken zu machen, gänzlich unvorbereitet zu sein oder keine Kompetenzziele für die Lernenden vor Augen zu haben. Vielmehr gilt es hier, die Lernmöglichkeiten an die jeweilige Situation anzupassen und die Gedanken, Ideen, Themen und Diskussionen, die spontan in der Kommunikation mit und zwischen Lernenden entstehen, ins Zentrum zu rücken, ohne den Druck aufkommen zu lassen, einem strikten Plan folgen zu müssen. Es handelt sich hierbei letztlich um eine konsequente Form der Lernendenzentrierung und einer Lehrendenrolle als Facilitator, die kommunikativen Raum für wirkmächtige Partizipation eröffnet. In der radikalsten Form, die es so in der Praxis nicht geben wird, werden „[a]lle didaktischen Entscheidungen […] gefällt, während man lehrt und unter dem Eindruck des Moments“ (Arn 2016, 20). Jede agile Didaktik bewegt sich aber irgendwo auf dem Kontinuum zwischen vollständig agilem und vollständig geplantem Unterricht. Schlussendlich ist ein zentraler Bestandteil einer jeden agilen Didaktik der Wille, zusammen mit den Studierenden Neues auszuprobieren und über das gemeinsame Lernen und Arbeiten zu reflektieren. Damit ist die “[a]gile Didaktik […] nichts für Besserwisser-Lehrende, nichts für Prüfungswissen jagende Lernende und nichts für Hierarchiegläubige“ (Arn 2016, 29).
Die agile Didaktik bringt, trotz und wegen ihres Fokus auf Kommunikation, viele interessante Anknüpfungspunkte für die virtuelle (Fern-)Lehre mit sich. Erstens ist eine agile Herangehensweise an die Lehre ideal für Lehr- Lernsituationen geeignet, die aufgrund anderer Faktoren, zum Beispiel den Bedingungen einer globalen Pandemie, weniger berechenbar sind und tendenziell Pläne sprengen. Zweitens steht das Experimentieren mit und das Reflektieren von neuen didaktischen Ideen und Formen im Zentrum der virtuellen Didaktik. Auch hier zeigt sich die Überschneidung mit der Rolle als Facilitator in der Lehre. Damit wird die Unsicherheit, die virtuelle Lehrformate oftmals mit sich bringen, zum positiven Bestandteil des Lehrens und es eröffnen sich unter Umständen ganz neue Zugänge. Schlussendlich ist die agile Didaktik, zumindest im hier beschriebenen Sinne, sehr gut anschlussfähig an Flipped Classroom-Konzepte, da hier die notwendige, grundsätzliche Stoffvermittlung in die Vor- und Nachbereitung verschoben wird, während die (Präsenz-)Veranstaltung frei wird für ein interaktives Unterrichtsgeschehen, das jetzt lernenden- zentriert und agil gestaltet werden kann (→Frage 10).
Wer sich nun am agilen Lehren und Lernen versuchen möchte, aber nicht gleich die volle Offenheit sucht, kann sich an der „Basisvariante“ von Detlef Stern (2019) orientieren, die einige Prinzipien der agilen Didaktik aufnimmt und mit einem vereinfachten Scrum-Modell zusammenbringt. So entsteht ein gut strukturiertes, aber in sich agiles Modell, welches sich hervorragend für die virtuelle Lehre verwenden lässt. Im Kern funktioniert das Modell so: Es gibt eine Liste mit Themen und Arbeitsaufträgen, Herausforderungen (Challenge-Based Learning) oder Problemstellungen (Problem-Based Learning), die von den Lehrenden (oder auch ko-kreativ mit den Lernenden) aufgestellt wird. Die Lernenden wählen nun in Gruppen ein Thema für sich aus, bearbeiten dieses selbstständig und reichen einen Lösungsvorschlag ein. Die Gruppe erhält dann von der lehrenden Person Rückmeldung und integriert diese in die Bearbeitung zukünftiger Aufgaben und Themen. So „ergibt sich ein zyklischer Ablauf mit positiver Rückkopplung“ (Stern 2019, 9), der gleichzeitig sehr viel Spielraum für eigene Schwerpunkte, Ansätze und Ideen birgt. Während die Themen, Herausforderungen, Problemstellungen etc. fix sind, bleiben der genaue Ablauf, die Art der Bearbeitung oder die Schwerpunktsetzung flexibel und können durch die Gruppe agil an die jeweilige Situation angepasst werden. Zusätzlich zu diesen Arbeitsphasen gibt es gemeinsame Termine, die zur gemeinsamen Diskussion von Schwierigkeiten, zur Impulssetzung etc. verwendet werden. Dieses Modell lässt sich leicht teilsynchron umsetzen, indem die Gruppen selbstorganisiert arbeiten und nur die gemeinsamen Termine synchron mit allen stattfinden. Gerade für den virtuellen Raum bietet die agile Didaktik also ein ausgezeichnetes Mittel, auch stark heterogene Gruppen von Studierenden aktiv in ihrem Lernen zu unterstützen.
Eggensperger, P., Kleiber, I., Klöber, R., Lorenz, S.M. & Schindel, A. (2023) Virtuelle Hochschullehre. Ein Handbuch in 50 Fragen und Antworten, Heidelberg: heiBOOKS, S. 62-664