IV. Classroom Management, Lernmaterialien und Accessibility 35. Wie können barrierearme Lernmaterialien gestaltet werden?
Ein wichtiger Grundsatz bei der Erstellung von Lernmaterialien, auch jenseits von Barrierefreiheit, besteht in der Differenzierung. Das heißt zum Beispiel, sich bei Informationsvermittlung und (kollaborativen) Aufgabenstellungen nicht auf ein Medium zu verlassen, sondern generell verschiedene Formate und Materialien anzubieten, die alle konsequent auf die angestrebten Lernziele abgestimmt sind. Das Wichtigste bei der Gestaltung barrierefreier Lehrmaterialien ist, dass Lehrende sich bestehender und potenzieller Barrieren bewusstwerden und auf bereits vorhandene Angebote ihrer Universität oder Hochschule zurückgreifen, um Barrieren zu entfernen (z. B. zu einer barrierefreien Einrichtung von kursbegleitenden Lernplattformen, mithilfe von Accessibility-Check-Tools für im Kurs verwendete Materialien, zur Text-Transkription, zur Untertitelung von Videomaterialien etc.). Auch sollten Lehrpersonen flexibel auf Anfragen Studierender reagieren, wenn dies letzteren den Zugang zu den notwendigen Kursmaterialien und eine aktive Teilnahme am Kursgeschehen überhaupt erst ermöglich. Ähnliches gilt für die Gestaltung von Prüfungsformaten; hier nimmt jedoch das Anbieten von Alternativen oder verschiedenen Formaten eine noch gewichtigere Rolle ein. Zu bedenken ist in diesem Kontext auch, dass Studierende oft einen rechtlichen Anspruch auf Nachteilsausgleiche haben. Ebenso können Lehrende im Hinblick auf prüfungsrelevante Materialien wie Referatsthemen und Literaturlisten ihre Anforderungen frühzeitig kommunizieren sowie auf Rückfragemöglichkeiten (z. B. in Form von offenen Sprechstunden) hinweisen. Und schließlich sollten lernrelevante Materialien frühzeitig und langfristig zur Verfügung gestellt und nicht spontan geändert werden: Gerade sehbeeinträchtigte Studierende benötigen oft zusätzliche Zeit, um verschriftlichte Materialien in für sie rezipierbare Versionen umzuwandeln.
Allgemeine Prinzipien für die Gestaltung barrierearmer Materialien beziehen sich häufig auf die ursprünglich für einen Web-Kontext entwickelten WCAG-Richtlinien (Web Content Accessibility Guidelines) des World Wide Web Consortium (W3C), welche fordern, dass alle Materialien auch für eine große Gruppe von Menschen mit Beeinträchtigungen (von Seh- und Hörbeeinträchtigungen zu Lernschwierigkeiten, Sprachbehinderungen und chronischen physischen oder psychischen Erkrankungen) wahrnehmbar, bedienbar, verständlich und robust gestaltet sind (12). Diese Anforderungen haben Konsequenzen für die Gestaltung verschiedener Medienformate, welche im Folgen- den kurz umrissen werden. In diesem Abschnitt wird hauptsächlich die Erstellung von Textdokumenten beschrieben. Für konkrete Hinweise zu einer barrierearmen Gestaltung von Audiomaterialien bietet →Frage 36, für Hinweise zum Erstellen barrierearmer Videos liefert →Frage 37 hilfreiche Antworten.
Die größte Herausforderung bei Textdokumenten ist eine Aufbereitung, die es sehbeeinträchtigten Menschen ermöglicht, die Dokumente lesen zu können beziehungsweise durch Screenreader, das heißt Vorlese-Anwendungen, taktil in Braille umwandeln oder mittels Sprachsynthese akustisch vorlesen zu lassen. Ähnliches gilt für Webseiten; hier muss die Darstellung jedoch so erfolgen, dass auch grafische Elemente wie Fenster, Menüs, Auswahlboxen, Symbole und Ähnliches nicht-visuell wiedergegeben werden können. Konkret bedeutet dies, dass nicht selbst erstellte Dokumente wie kopierte oder gescannte Texte leserlich und kontrastreich reproduziert werden sollten. Bei elektronischen Dokumenten können traditionelle Dateiformate wie PDFs benutzt werden, die von verschiedenen Browsern und Programmen geöffnet werden können, und bei denen die Texterkennung aktiviert sein sollte, um den Studierenden so ein Vorlesen oder Bearbeiten zu ermöglichen. Zusätzlich ist auf allgemeine Lesbarkeit zu achten, das heißt Dokumente sollten ein übersichtliches Layout und Design besitzen, welches (bei elektronischen Dokumenten) Vergrößerungen zulässt, mit starken Kontrasten (schwarz/weiß, schwarz/gelb) arbeitet und Farbkombinationen wie blau/grün, rot/grün oder rot/orange vermeidet. Um eine Sprachausgabe zu gewährleisten, sollten bei der Erstellung von eigenen Dokumenten Layout-Vorlagen verwendet werden, welche Strukturelemente des Dokumentes wie Kapitelüberschriften als solche kennzeichnen: Zum Beispiel sollten Umbrüche markiert und nicht nur durch Drücken der Enter-Taste erzeugt werden; Listen als Listen formatiert und Einrückungen über Tab statt das mehrmalige Drücken der Leertaste erzeugt werden, da sonst jedes Leerzeichen einzeln vorgelesen würde.
Um bestimmte Elemente im Text hervorzuheben, ist es weiterhin sinnvoll, auf Farbe zu verzichten und anstelle dessen mit der Schriftart zu arbeiten (wie Fettdruck und Kursivsetzung; Unterstreichungen können hinderlich sein). Kann auf Farbe nicht verzichtet werden, sollte man zusätzliche Markierungen hinzu- ziehen (z. B. bei digitalen Anwesenheitslisten nicht nur mit rot und grün arbeiten, sondern Symbole wie Häkchen hinzufügen). Bei Schriftarten sind solche ohne Serifen und Verzierungen zu wählen, wie zum Beispiel Arial oder Verdana, und eher nicht das allgemein übliche Times New Roman, und der Zeilenabstand sollte 1.5 Zeilen betragen. Ebenso sollten Schriftarten beziehungsweise Schriftgrafiken vermieden werden, die in Größe und Kontrast nicht angepasst werden können. Und letztlich sollte auf die Spracheinstellungen geachtet wer- den, insbesondere bei Texten, die fremdsprachliche Elemente enthalten: Englische Abschnitte in deutschen Dokumenten sollten zum Beispiel über die Korrekturhilfe-Funktion als solche markiert sein, damit Screenreader englische Textteile nicht wie deutsche (und somit oft unverständlich) vorlesen. Detaillierte Beschreibungen zu barrierearmer Gestaltung von Microsoft Office- Dokumenten wie Word-Dokumenten, PowerPoint-Folien und Excel-Dateien finden sich auch direkt bei Microsoft; ebenso beinhalten viele Textverarbeitungsprogramme und Lernplattformen wie Moodle heutzutage bereits integrierte „e“-Tools, mit deren Hilfe erstellte Materialien direkt auf potenzielle Barrieren überprüft werden können.
Bei vielen Dokumenten, die in der Lehre zum Einsatz kommen, handelt es sich jedoch nicht um reine Textdateien, sondern um komplexere Dokumente, die neben Texten auch Bilder, Grafiken und visuelle Darstellungen von Daten, zum Beispiel in Form von Graphen, Karten oder Diagrammen, enthalten. Solche graphischen Darstellungen können von Screenreadern häufig nicht in nicht-visuelle Formen übersetzt werden. Deswegen ist es bei allen visuellen Dokumentenanteilen, die didaktisch oder inhaltlich von Relevanz sind, essenziell, dass sie von Alternativtexten, das heißt von Bildbeschreibungen, begleitet sind. Handelt es sich hingegen tatsächlich um rein dekorative Elemente, so können diese in Standardprogrammen anstelle eines Alternativtextes auch als solche gekennzeichnet werden. Solche Textalternativen können vorgelesen oder in andere Textformen wie Braille übersetzt werden. Ziel dieser Alternativtexte muss immer sein, den Inhalt oder Zweck der Visualisierung adäquat zu beschreiben. Nähere Informationen zu solchen Alternativtexten finden sich zum Beispiel bei WebAIM (Englisch) (13) und in den DIAGRAM Image Description Guidelines (Englisch) des DIAGRAM Centers (=Digital Image and Graphic Resources for Accessible Materials) (14). Wie nicht-textuelle Inhalte in Prüfungssituationen handzuhaben sind, findet man in den NWEA Image Description Guidelines for Assessment (Englisch) (15). Umfang und Detailtreue der Beschreibungen sind jedoch explizit kontextgebunden und können von Fach zu Fach sehr unterschiedlich ausfallen.
Zusätzlich zu der Erstellung von barrierefreien Lernmaterialien muss auch eine barrierearme Zugänglichkeit dieser Formate gewährleistet werden. Gerade im virtuellen Raum können dabei weitere Barrieren entstehen, wenn Webseiten und Lernplattformen bestimmte technische Anforderungen nicht erfüllen. Da es sich bei der Gestaltung solcher Webseiten und Plattformen jedoch um ein äußerst komplexes und technisches Thema handelt, über welches Lehrende häufig keine oder nur wenig Kontrolle haben, seien hier nur kurz Punkte genannt, die von Lehrenden auch ohne ein fundiertes IT-Wissen adressiert wer- den beziehungsweise die dabei helfen können, geeignete, bereits bestehende Online-Formate auszuwählen, die weniger Barrieren aufweisen. Zum einen sollten barrierearme Webseiten und Plattformen genau wie Dokumente kontrastreich, vergrößerbar und übersichtlich gestaltet sein sowie Inhalte leicht verständlich darstellen; die Textdarstellung sollte steuerbar sein. Ebenso sollten Inhalte und Interaktionsobjekte gut strukturiert und semantisch gekennzeichnet sein, Bilder und Icons ebenso durch Textalternativen gestützt werden. Zusätzlich zu Layout-Fragen ist es besonders wichtig, auch an Tastatur- Benutzer*innen zu denken: Dementsprechend sollten alle Funktionen, die mit der Maus erreichbar sind, auch über die Tastatur erreichbar sein und die Navigation so einfach wie möglich gehalten werden. Und schließlich können Links zu anderen Webseiten schwer unterscheidbar von regulärem Text sein beziehungsweise unklare Ziele haben. Hier ist es angebracht, Formulierungen wie „hier klicken“ zu vermeiden und eher den Inhalt des Links im Link selbst zu beschreiben. In bestimmten Kontexten kann es auch hilfreich sein, den gesamten Link zur Verfügung zu stellen, um Verwirrung zu vermeiden; allerdings bereitet ein solches Vorgehen für Studierende, die auf Screenreader angewiesen sind, eher Probleme, da so der gesamte Link vorgelesen würde.
Eggensperger, P., Kleiber, I., Klöber, R., Lorenz, S.M. & Schindel, A. (2023) Virtuelle Hochschullehre. Ein Handbuch in 50 Fragen und Antworten, Heidelberg: heiBOOKS, S. 100-103